Januar 2010, Auszug aus Ridaya-Newsletter

Märchen werden uns doch in der Politik schon genug erzählt...

Märchen – liegen darin nicht Phantasie, Sehnsucht, Wunder?
Regen die Märchen nicht unsere Träume an? Damit könnte man schon vollkommen zufrieden sein. Phantasie, Sehnsucht, Wunder, Träume – das entführt uns sicherlich schon für eine kleine Weile aus unserem täglichen Ablauf und bringt uns auch abends mal vom getreuen Fernseher weg.
Märchen regen zum Nachdenken und Philosophieren an und wer mag, darf auch darüber diskutieren: Warum darf die Prinzessin den Frosch gegen die Wand werfen und wird dafür auch noch mit einem Prinzen belohnt? Wir, als normaler Bürger
dürften uns das sicherlich nicht erlauben, oder?
Als wir Kinder waren, haben uns die Märchen unterhalten.
Und manche sagen, dass Märchen eine tiefe Wirkung auf die Psyche haben sollen. Genau werden wir nie erfahren, wie unsere Märchen unsere Kindheit vielleicht bereichert, gerettet oder auch beengt haben. Auf welche Weise wir uns im Prinzen
oder im König sowie der Prinzessin oder auch im schlammigen
Eisenhans wiederfinden, ist zunächst unbewusst.

Auch die dumme Gans oder der blutende Finger, nachdem wir uns im Geiste gemeinsam mit Dornröschen an der Spindel gestochen haben, berührt zumindest erst einmal bloß das visuelle Zentrum im Gehirn. Und ein bisschen spüren wir die Botenstoffe, die freigesetzt werden und den Fluss von Emotionen in uns anregen.
Geplante Taktik?
Märchen sind – im Gegensatz zu den meisten Geschichten, die heutzutage verbreitet werden – nicht aus politischen Gründen entstanden. Dennoch könnte man dies meinen, denn sie sprechen zwar indirekt aber trotzdem deutlich Defizite in der Gesellschaft oder im Leben an. Manchmal gibt es sogar einen moralischen Zeigefinger. Doch wie unterscheiden wir nun ein „Politik - Märchen“ der New York Times oder der Bild-Zeitung von einem Märchen, dem wir unsere Seele zur Heilung anvertrauen können?
Genügend Spielraum für eigene Interpretationen lassen beide. Grund zur Aufregung über die Gewaltverherrlichung in beiden Fällen gibt es ebenfalls genug.
Es mag das Alter der Märchen sein und die lange Zeitspanne, in der sie in unserer Gesellschaft immer wieder erzählt und auf diese Weise lebendig gehalten wurden, die ein Märchen zu einer kraftvollen Metapher machen.
Und dennoch spielen sie sich nicht in Raum und Zeit ab, haben keinen historischen, sondern nur seelischen Raum.
Märchen sind Arbeit für die Seele und daher Wirklichkeit für die Stunde, in der du ihnen zuhörst. Die in ihnen enthaltenen Symbole dringen auf eine Weise in unsere Seele ein, wie es eine Bild-Zeitung zum Glück niemals könnte.
Hass, Zorn, Rache und Begehren sind in den Märchen die Triebfedern so mancher Tat. Es gibt vergiftete Kämme und Äpfel, gläserne Särge und sieben Zwerge, die das Leben bestimmter Damen beeinflussen. Symbole dieser Art führen die elektrischen Ströme im Gehirn hin und her und dabei können sich die Nervenzellen neu vernetzen. Es entstehen Lösungen, die vorher nicht möglich gewesen wären - dadurch, dass wir im Denken an so ungewöhnliche Schauplätze geführt werden. Die gleiche Übung im Sportstudio ausgeführt, würde uns Muskeln bringen und Sehnen dehnen. Mit anderen Worten könnte man sagen: Märchen trainieren die Hirnmuskulatur, ganz ohne dass wir es merken. Denn wer würde schon freiwillig erst an einen Kamm denken, dann an einen Apfel und danach an einen gläsernen Sarg?
Könnte es sich lohnen, solche Gedanken-Salti einfach mal zuzulassen? Sie brächten jedenfalls kreativeres Leben hervor, als den ganzen Tag nur in einen Bildschirm zu schauen oder Akten hin- und herzutragen. Ängste überwinden, sich mal etwas trauen, auch wenn die Sache aussichtslos scheint. Ungewöhnliche Lösungen suchen, sich auch als Schwacher trauen, sich mit Stärkeren anzulegen und dabei lieber schlau statt stark zu sein. Das Beste aus der eigenen Dummheit machen ... könnten wir das überhaupt ohne Märchen? Könnten wir sehen, dass gerade das benachteiligte Eselein durch seine Hufe und unedle Gestalt erst zu der Prinzessin und damit zu seinem Leben in Glück und Wohlstand gefunden hat? Nur wer so wenig zu verlieren hat, wie das Eselein oder die Goldmarie ist auch
bereit, in den Brunnen zu springen. Er traut sich, in die unbekannten Tiefen der Seele vorzudringen und sich damit auf einen individuellen kraftvollen Weg zu begeben. Was wäre der Held ohne die Herausforderung durch das Böse?
Letzten Endes verdankt er gerade ihm sein Glück. Seine neuen Fähigkeiten
und Lösungen entwickeln sich oft aus dieser Not heraus.
Für die Zeit, in der du einem Märchen zuhörst, nimmt es dich mit auf eine Reise. Und wer hat auf dieser Reise noch nicht vom Prinzen oder der Prinzessin geträumt? Sie stehen für deine inneren Prinzen und Prinzessinnen. Sie sind Seelenanteile, die integriert werden wollen. Sie finden sich/dich. Durch ihre Hochzeit vervollständigst du dich, um kraftvoller und stärker zu werden. Das Märchen sagt, wie zum Beispiel
in der Geschichte vom „Hans im Glück“: Das Leben hat einen Sinn.
Du kannst vertrauen. Märchen weisen darauf hin, dass man im Leben
zurechtkommen und durch die Gegebenheiten des Lebens lernen kann.
Das Gute siegt, die Macht des Bösen ist nicht grenzenlos.
Hier liegt der Gegensatz zur Intention „politischer Märchen“, die unser Inneres lieber geteilt und damit geschwächt sehen wollen. Sie verbreitenAngst, um uns enger zu machen. Sie suggerieren uns, dass das Böse siegen wird.
Doch das Leben schenkt uns, genau wie im Märchen seinen Figuren, nicht einfach so irgend welche Dinge, wie Tischlein, Esel usw., sondern Möglichkeiten. Jene Gaben verwirklichen sich genau an dem Punkt, wo der Held und seine Aufgabe zusammentreffen. Die Geschenke dienen zur Bewältigung der entscheidenden Aufgaben, nicht zum dauerhaften bequemen Gebrauch. Märchen eröffnen uns den Blick darauf, jene Geschenke auch im Alltag erkennen zu können. Nur die Unhelden, z.B. die Stiefmütter oder älteren Brüder geben sich zufrieden, wenn sie
einen Berg voll Silber oder Gold finden. Den eigentlichen Helden treibt es in eine tiefere Schau und damit weiter.
Zur wissenschaftlichen Seite der Märchen sei gesagt, dass die von den Gebrüdern Grimm gesammelten Märchen ja eigentlich nie für Laien gedacht waren, sondern dass die Grimms diese für die wissenschaftliche Betrachtung publiziert haben. Doch das fertige Werk wurde hauptsächlich von Laien gekauft. Daraufhin wurden viele der grausamen Aspekte später abgeschwächt.
Gefühlskalt sind die Märchen allemal. Über Emotionen wird kaum erzählt, um daraus Atmosphäre zu erschaffen.
Wenn überhaupt, sind Gefühle lediglich ein Element der Handlung. Die Figuren haben nicht offenkundig hörbare seelische Tiefe. Ihr Charakter zeigt sich in ihren Handlungen. Darum ist es wichtig, beim Zuhören möglichst bildhafte Vorstellungen entstehen zu lassen. Märchen wirken durch ihre Bilder, nicht mit Gefühlen. Die Figuren im Märchen haben weder eine Innenwelt noch eine Umwelt. Die Erzählweise ist flächenhaft, zeitlos. Es wird nicht ausschweifend beschrieben, es wird nur genannt und gehandelt.
Doch fast wie magisch finden wir auf diese Weise den Schlüssel verborgen, mit dem wir die Tür in unsere eigene Innenwelt öffnen können. Welche Vorlieben und Abneigungen habe ich? Wie stehe ich zu welchem Märchen, welchem Held und
welchem Symbol? Diese Fragen entschlüsseln jene Kette von unbewussten Entscheidungen, die wir sehr früh in der Kindheit getroffen haben und die sich „Lebensskript“ nennt. Du gewinnst Aufschluss über deine Annahmen, wie die Welt ist und wie wir in ihr zu leben haben. Damit werden Fragen beleuchtet, die die
psychologische Ursache unserer alltäglichen Sorgen betreffen.
Man denke an die zahlreichen Frauen, die ständig unter dem Leistungsdruck leben müssen, Unmögliches möglich machen zu müssen. Um ihrem Vater zu gefallen und seinen Ansprüchen gerecht zu werden, muss das Mädchen Stroh zu Gold spinnen. Das Rumpelstilzchen hilft ihr zunächst und wird später zur Bedrohung. Wie die erwachsene Frau dann mit ihm umgehen kann, lässt Raum für Kreativität.
Bei der nächsten Märchenstunde im Ridaya, die du besuchst, frage dich selbst:
Welche Bilder und Symbole, welche Geschichten gefallen dir, welche nicht?
Was würdest du weglassen/verändern/hinzudichten?
Welche Figur gefällt dir, welche nicht?
An welchen Stellen kannst du beim Zuhören gut folgen und wann nicht?
Was dies auf einer analytischen Ebene bedeuten könnte, ist vielleicht etwas weniger interessant, als zu beobachten, welche Empfindungen in dir ausgelöst werden. Und vergiss dabei nicht: Man sieht nur mit dem Herzen gut, das
Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.



Interview mit der Märchenerzählerin Ingrid Reinhardt

Liebe Ingrid, auf welche Weise können Märchen die heutige Zeit bereichern?

Die Märchen berühren Menschen gestern wie heute! Sie bewegen den Menschen durch innere Bilder. C.G. Jung, der Tiefenpsychologe, sprach einmal von archaischen Bildern, die in allen Menschen aller Kulturen präsent sind. Sie haben einen Symbolwert, wie im Traum. Die Deutung der Bilder kann je nach Kulturart unterschiedlich sein. Diese Bilder entstehen besonders gut in der Entspannung.
Endlich darf das Kopfdenken einmal zur Ruhe kommen! Im Idealfall lauscht der Zuhörer dem Märchen, das durch freies Erzählen belebt wird. So würde es ein Kind (inneres Kind) tun. Die starken plakativen Bilder haben eine Wirkung im Zuhörer, die wundersame und beglückende Schätze hervorbringen. Vielleicht ein Gefühl der
Geborgenheit, der Hoffnung, des Mutes, der Liebe, der Zusammengehörigkeit, das ist sehr individuell! Der Zuhörer gelangt zu seinen Wurzeln.
Märchen gehen fast immer gut aus, im Gegensatz zu den Geschichten, die in den heutigen Medien erzählt werden.
Mit vorgefertigten Bildern und Meinungen wird das Äußere der Menschen belebt und nicht sein Inneres. Der Mensch entfernt sich von sich selbst und wird dadurch manipulierbar!
Märchen können tief berühren, wenn man sich auf sie einlässt. Da bietet das Ridaya einen idealen Rahmen. Dort kann der Zuhörer sitzen oder liegen und sich in einer entspannten Umgebung „fallen lassen“. Das Märchen hat dort einen meditativen Raum. Kurzum: Märchen entspannen und berühren!

Was macht einen gute(n) Märchenerzähler(in) aus?

Ein guter Erzähler hat „Feuer“ gefangen und ist mit Leib und Seele bei der Arbeit. Er kennt sein Märchen und bearbeitet es sehr genau. Das heißt, er fühlt sich in das Märchen ein, ob es auch „sein“ Märchen ist, ob er es mag und es stimmig für ihn ist. Er muss es lieben. Der Märchenerzähler erarbeitet sich dann sein Märchen. Dies bezieht Inhalt, Tiefgründigkeit und Sprache ein. Er schreibt den Text um, ohne den Inhalt zu verändern. Auch bewahrt er die schöne poetische Sprache, die besonders in den Grimmschen Märchen zur Erzählfreude anregt! Die deutsche Sprache ist eine so schöne und vielfältige Sprache, die zu verstümmeln droht. So steht der gute
Erzähler auch in der Verantwortung einer guten Sprachvermittlung. Der Erzähler muss seine Märchenstunde sehr gut und rechtzeitig vorbereiten.
Der gute Erzähler stellt sich mit der Märchenauswahl auf das Thema und - wenn möglich - auf die Zuhörer ein. Zum Beispiel bei Kindern muss er auf das Alter achten.
Seine Stimme und Aussprache müssen immer wieder trainiert werden, ähnlich wie bei einem Sänger, damit sie auch am Ende seines Programms noch gut klingt und die Gäste ohne Anstrengung zuhören können. Der Erzähler sollte frei und deutlich in der Aussprache die Märchen erzählen. Mit Herzblut! Die Stimme ist sein Werkzeug. Er sollte die Märchen vom Anfang bis zum Ende in der Spannung halten und dennoch mit großer Ruhe erzählen.
Ein guter Märchenerzähler hat dabei alle seine Zuhörer im Blick, damit sich alle angesprochen fühlen. Er muss sich am Ende hinterfragen lassen. Doch sollte er sich nicht auf eine Symboldeutung festlegen, denn die gibt es nicht.
Jeder Zuhörer deutet für sich die Märchen selber! Er liebt das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen und hat schon viel Erfahrungen damit gemacht. Eben wie im Märchen!! Für mich ist es der schönste Beruf, den es gibt!

Woran bemerkst du, dass ein Märchen „deins“ ist und dass für dich eine tiefere Erarbeitung des Textes fruchtbar ist?
Zum Beispiel welche persönlichen Empfindungen oder Kriterien lassen dich darauf schließen?

Ich lese ein Märchen. Es spricht mich sofort an durch den Inhalt, Held, Heldin, Stationen und Witz. Ich fühle sofort einen Input der Wärme und der Lust, es zu erzählen. Beim Erarbeiten spüre ich dann den Tiefgang des Märchens und weiß: jetzt erzähle ich es erst recht! Es hat mich buchstäblich angezogen! Am Anfang ist erst ein vages Gefühl da, das sich dann später als richtig bestätigt. Was mich an den Wegen der Märchenfiguren bewegt, sind eigene, vielleicht ähnliche Erlebnisse meines Lebens. Sie dürfen nicht mehr aktuell sein, sonst hänge ich zu
persönlich in den Geschicken und Personen.

Ich lese viele Märchen und sie sprechen mich überhaupt nicht an. Dann höre ich sie von einem Erzähler und bin erstaunt, wie das Märchen lebt! Erarbeite ich es dann für mich, da ich „Feuer“ gefangen habe, muss es zu meinem Erzählstil passen. Es darf keine Kopie eines anderen sein. Authentizität ist hier unbedingt erforderlich! Auf jeden Fall muss mich ein Märchen innerlich ansprechen, sonst kann ich es nicht erzählen. Sind unbearbeitete persönliche Probleme darinnen, dann wäre es unverantwortlich, sie an mein Publikum weiterzugeben! Es muss mir natürlich
bewusst sein. Deshalb ist es so wichtig gut vorzuarbeiten!
Doch kommt es vor, dass ich einen Auftrag für ein bestimmtes Märchen bekomme. Erst nach gründlicher Beschäftigung damit finde ich ein Ja oder Nein dazu. Diese Art der Annäherung brauchte ich bei den Kunstmärchen von Andersen. Daraufhin habe ich mich mit seiner Biographie beschäftigt und erst daraufhin unglaubliche Bezüge zu seinen Märchen festgestellt. Eine sehr spannende Sache! So spannend, dass ich unbedingt und aus Begeisterung meinen Zuhörern davon erzählen musste! Ähnliches gab es bei der Erarbeitung der (selbst „verschuldeten“) Gruselmärchen
(am 30.10., Anm. der Redaktion). Eine Herausforderung! Lange bin ich damit herumgelaufen bis ich eine Lösung fand. Jetzt ist sie für mich gut und somit auch fürs Publikum.
Alte, wirklich alte Erzählerinnen und Erzähler habe ich in den letzten Jahren gehört. Beim Erzählen waren sie alterslos, obwohl sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Zu lauschen, wie sie durch die Märchen ihre Lebensweisheiten transportierten, war ein Erlebnis. Durch sie fühle ich mich ermutigt, mich an Märchen ranzuwagen, die noch tief in mir verborgen liegen. Ich habe es nur noch nicht gewagt, sie rauszulassen. Auch ich als Erzähler darf neue Wege gehen, die mich voranschreiten lassen. Märchenhaft!

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